Bedrückend aktuell Helmut
36 | ALSTERTAL MAGAZIN SASEL Bedrückend aktuell Ende Oktober liest Helmut Zierl in Sasel aus dem Büchlein Adressat unbekannt, in dem sich ein Jude an seinem deutschen, ehemaligen Geschäftspartner und Freund rächt. Wir sprachen mit dem Schauspieler über die eindrucksvolle aber auch bedrückende Briefnovelle. Alstertal Magazin: Was haben Sie empfunden, nach- dem Sie diesen Briefwechsel erstmals gelesen haben? Helmut Zierl: Ich war betroffen und habe sofort gewusst, dass ich dieses Buch einem größeren Publikum vorstellen muss. Warum haben Sie sich gerade diesen Lesestoff aus - gesucht? Es gehört zwingend zur deutschen Geschichte ... gerade heute bei all dem Fremdenhass mehr denn je. Gibt es Stellen im Text, bei denen Sie zucken, bzw. die Ihnen vielleicht schwerer fallen zu lesen als an- dere welche und warum? Die Textstellen mit Griselle wirken auf mich emotional immer noch sehr verstörend. Es ist schwer zu ertragen, wie verroht Menschen miteinander umgehen. Martin weist die hilfesuchende Griselle an der Tür ab und sie wird danach auf seinem Grundstück von der anstürmenden SA ermordet. Die Frage, Was hätte ich getan?, möchte man sich gar nicht stellen. Haben Sie mal darüber nachgedacht? Jeder Mensch sollte sich diese Frage stellen. Es fällt schwer, sich in die damalige Zeit hineinzuversetzen. Zi - vilcourage zu zeigen bedeutete, sein eigenes Leben zu riskieren. Die Nazis haben alles ermordet, was regimekritisch war. Trotzdem ist es für mich schwer vorstellbar, das schutzsuchende Mädchen nicht ins Haus zu lassen. Elke Heidenreich spekuliert im Vorwort einer rororo-Ausgabe: Vielleicht macht den ungeheuren Erfolg dieses kleinen Buches unter anderem aus, dass man beim Lesen eine heimliche Er- leichterung verspürt, dass einer (ein Jude) zurückgeschlagen und gewonnen hat. Geht Ihnen das genauso? Mir ging es ähnlich. Es beschlich mich sogar eine Art Genugtuung. Was macht für Sie den Erfolg des Briefwechsels aus? Faszinierend ist, dass es möglich ist, sich allein mit Briefen erfolgreich zur Wehr zu setzen. Hat das Buch ihre Sichtweise auf die Deutschen damals und die Zeit der Naziverbrechen verändert, bzw. hat das Buch bei Ihnen etwas bewirkt? Das Buch hat nur all das bestätigt, was ich über den Nationalso- zialismus weiß . Die Anpassung von Martin nach der Rückkehr nach Deutschland geht schnell, schnell wird er glühender Nazi, sogar gegen einen seiner besten Freunde, einen Juden. Auch heutzutage lassen sich Menschen schnell von Populisten, etwa bezüglich der Flüchtlinge, einfangen. Warum wird sich diese Geschichte trotzdem nicht wiederholen? Oder wird sie es? Ich habe große Sorge, dass sie es tut. Es ist er - schreckend und beängsti - gend, dass es so einen ekla - tanten Rechtsruck in unserem Land und auch in großen Teilen Europas, gibt. Ich kann die dafür an - gegebenen Gründe nicht nachvollziehen. Sie spielen gerade in Wir lieben und wissen nichts. Ein Stück, dass laut Kritikern die Frage Kann man zusammen- bleiben, wenn man sich die Wahrheit sagt? behandelt. Im Briefwechsel wird die Wahrheit gesagt und die Freundschaft zerbricht. Gibt es Parallelen zwischen Theaterstück und Buch? Nein, das wäre schon sehr weit hergeholt. Es geht um zwei Paare, die einen Wohnungstausch vollziehen und dabei an ihre Grenzen kommen, sowohl in weltanschaulicher als auch moralischer Sicht. Es ist inhaltsreiche, kluge, aber auch leichtere Kost. Ich kann keine wirklichen Parallelen zum Buch entdecken. Kai Wehl